26.04.2017

Frage an den Tierarzt / die Tierärztin: „Sind die Zähne meines Kaninchens in Ordnung?“

Kaninchen und anderer Heimtiere (wie Meerschweinchen, Chinchilla, Degu) sind als Flucht- und Beutetiere wahre Meister darin Anzeichen einer Erkrankung solange wie möglich zu verbergen. Man kann deshalb nicht automatisch davon ausgehen, dass ein Tier „gesund“ ist, nur weil es keine erkennbaren klinischen Symptome zeigt und „normal“ frisst.

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Insbesondere Kaninchen leiden häufig an weit fortgeschrittenen Gebisserkrankungen obwohl sie allem Anschein nach problemlos Nahrung zu sich nehmen. Denn sie können einseitig kauen, wodurch schmerzhafte Veränderungen der erkrankten Gebiss-Seite nicht so schwer ins Gewicht fallen. Folglich bleiben sie lange unerkannt. Selbst dem sehr gewissenhaften und womöglich auch sehr erfahrenen Tierhalter fällt allem Anschein nach nichts besonderes auf.

Falls sie beim nächsten Tierarztbesuch das Gebiss ihres Kaninchens überprüfen lassen möchten, so sollten sie folgendes beachten:

Zur korrekten Überprüfung der Zähne ist ein „(rascher) Blick in die Mundhöhle“ keinesfalls ausreichend – auch nicht unter Verwendung eines Endoskops oder Otoskops. Denn Veränderungen der Zähne beginnen in aller Regel innerhalb des Zahnfaches oder im Bereich der Zahnwurzeln und bleiben somit bei dieser Form der Untersuchung meist unerkannt. Es ist ganz entscheidend, dass dies ca. 80% aller möglichen pathologischen Veränderungen betrifft! Diese werden demnach bei einer alleinigen intraoralen Untersuchung übersehen. Das führt dazu, dass die Veränderungen unerkannt fortschreiten, progressiv - langsamer oder schneller (fallabhängig). Und bei der nächsten Untersuchung ist es dann oft bereits zu spät, um dem Patienten noch adäquat helfen zu können.

Ich hoffe sehr, dass heutzutage zur „raschen“ intraoralen Diagnostik keine Kiefersperrer mehr ohne Narkose eingesetzt werden. Dies ist obsolet und wird heute hoffentlich nicht mehr durchgeführt. Wenn ja, rate ich ihnen so rasch wie möglich die Praxis zu wechseln. Auch wenn die Tiere brav und ruhig sind, kann der Einsatz eines Kiefersperrers zu Schädigungen der Weichteile und manchmal auch des hinter den Schneidezähnen liegenden Knochens führen. Nach häufigem Einsatz erkennt man die Veränderungen auf dem Röntgenbild.

Um die Gesundheit der Zähne korrekt beurteilen zu können, sollte ihr Tierarzt/Tierärztin daher mindestens eine Röntgenaufnahme des Kopfes anfertigen (latero-lateraler Strahlengang). Falls er/sie dies nicht von selbst anbietet, bestehen sie bitte darauf. Das Übersichtsröntgen des Kopfes kann bei der Mehrzahl der Tiere ohne Narkose oder Sedation angefertigt werden (manuelle Fixation des Patienten). Viele Tierarztpraxen bieten dies aus strahlenschutzrechtlichen Bedenken nicht an – obwohl es erlaubt und unter Einhaltung der Strahlenschutzregeln auch möglich ist. Eine stressfreie Fixierung des Patienten ist durchführbar und bei tagtäglicher Anwendung eigentlich auch kaum ein Problem. Falls es also in Einzelfällen praxis- oder patientenbedingt nicht möglich sein sollte ohne Sedierung des Patienten Röntgenaufnahmen anzufertigen, so kann die radiologische Untersuchung alternativ unter Verabreichung von ein wenig Narkosegas per Maske oder einer entsprechend kurzwirkenden intramuskulären Sedation durchgeführt werden. Eine neue Terminvereinbarung sollte hierzu eigentlich nicht nötig sein. Diese ist für weitere, 

detailliertere Untersuchungen erforderlich, die dann sinnvollerweise unmittelbar vor der Therapie in Narkose angefertigt werden. Das garantiert optimale Röntgenbilder. Zu diesem Zeitpunkt sollte der Tierhalter aber bereits in etwa wissen, was mit dem Gebiss seines Tieres los ist. Daher ist die initiale Übersichtsaufnahme des Kopfes in ein oder besser zwei Ebenen dringend erforderlich bzw. unverzichtbar. Sie muss auch nicht optimal gelagert sein. Es geht primär lediglich um die Einschätzung der Gesamtsituation: ist das Gebiss in Ordnung ? oder liegen bereits beginnende Anzeichen einer Malokklusion vor ?, denen weiter nachgegangen werden muss.

Worauf beruht die absolute Notwendigkeit eine Röntgenaufnahme anzufertigen?

Wird lediglich eine intraorale Untersuchung durchgeführt, so können hierbei nur ca. 20% aller möglichen Veränderungen erfasst oder ausgeschlossen werden – auch wenn der Kopf des Kaninchens zusätzlich sorgfältig auf eventuelle Asymmetrien, Schwellungen oder schmerzhafte Stellen abgetastet wird. Das heißt, der Tierarzt/Tierärztin kann ihnen lediglich bestätigen, dass 20% des Gebisses in Ordnung sind. Dies ist ein nicht zufriedenstellendes Ergebnis, das im Prinzip die Frage nach einem gesunden Gebiss nicht beantworten kann und somit nicht hilfreich ist. Die restlichen 80% kann er/sie nicht beurteilen, denn ¾ der Schneide- und Backenzahnkörper sowie der wichtige Zahnwurzelbereich können ohne Röntgenaufnahme nicht eingesehen werden – egal wie viel Erfahrung der Untersuchende hat und wie sorgfältig er/sie die Untersuchung durchführt. Auch besondere Zahnspezialisten können allein anhand der intraoralen Diagnostik keine sichere Aussage über die Gesundheit des Gebisses stellen. Es ist schlichtweg nicht machbar ohne eine zusätzliche radiologische Untersuchung. Denn die Wurzeln der Zähne liegen tief im Knochen verborgen und gerade hier beginnen die Zahnprobleme am häufigsten, im Apexbereich und im Periodont (Zahnhalteapparat). Daher ist deren korrekte radiologische Beurteilung so wichtig!

So ist ein Hauptbefund bei fast allen Kaninchen, die an Gebiss- bzw. Zahnerkrankungen leiden, der Einbruch der Zahnwurzeln in den benachbarten Kieferknochen (retrograde Zahnelongation).Es gibt spezielle Referenzlinien, die man auf entsprechend gelagerten Röntgen-Aufnahmen des Kopfes einzeichnen kann, um beginnende Veränderungen frühzeitig erkennen zu können. Fragen sie hierzu ihren Tierarzt/Tierärztin oder lesen sie hier mehr darüber.

Die retrograde Verlängerung der Backenzähne führt im weiteren Verlauf zu schwerwiegenden Zahnverbiegungen (mit entsprechender Zahnspitzenbildung zur Backe oder zur Zunge hin) und Zahndrehungen innerhalb des Zahnfaches. Oder es entstehen Zahnspaltungen und strukturelle Veränderungen des Zahnhartgewebes, wodurch die Zähne spröde und brüchig werden. All dies geht mit einer sich progressiv ausbreitenden Zahnfachentzündung und lokaler Zahnwurzelabszedierung einher, die sich progressiv auf weitere Zähne ausbreitet und irgendwann meist in sichtbaren Kieferabszessen endet. Auch die Gegenzähne reagieren rasch auf die abnorme Situation. Ab einem gewissen Stadium sind die fortgeschrittenen Zahn- und Zahnfach-Veränderungen im Prinzip nicht mehr erfolgreich behandelbar und auch regelmäßig durchgeführte Zahnkürzungen nur von kurzfristigem Erfolg – schließlich verändern sie nichts an der primären Ursache! Bevor sie diesen Eingriff an den Zähnen ihres Kaninchens durchführen lassen wollen, vergewissern sie sich, dass aktuelle Röntgenaufnahmen vorliegen! Wiederholte Zahnkürzungen sind KEINE THERAPIE. Erst muss man wissen, was in der Tiefe abläuft. Die radiologisch Diagnostik ist immer der erste Schritt. Erst dann kann man überlegen, wie man die individuelle Situation verbessern bzw. behandeln kann. Um also beginnende Veränderungen des Gebisses rechtzeitig erkennen zu können, zu einem Zeitpunkt, wo der Patient in aller Regel keine Symptome zeigt, lohnt es sich auf jeden Fall eine sozusagen PROPHYLAKTISCHE RÖNTGENAUFNAHME des Kopfes anfertigen zu lassen und zur Beurteilung der Situation die Referenzlinien nach Böhmer & Crossley anzuwenden. Bestehen sie einfach darauf. Es ist zum Wohle ihres Lieblings. Sicher ist sicher.

Hier ein Beispiel: Ein Kaninchen mit augenscheinlich „gesundem“ Gebiss?!

Die Referenzlinien nach Böhmer & Crossley zeigen aber, dass sowohl die unteren Schneidezähne als auch die Backenzähne intraoral zu lang sind. Die hellgrünen Balken markieren die physiologische Länge der Zähne. Der grüne gestichelte Pfeil zeigt, um wieviel die Backenzahnkronen im Unterkiefer zu lang sind und der rote gestrichelte Pfeil weist auf die dementsprechend ebenfalls verlängerten Zahnkronen der unteren Schneidezähne hin. Die Okklusionsebene ist zwar noch physiologisch, aber alle unteren Zähen sind intraoral elongiert. Desweiteren erkennt man eine unphysiologisch geformte Spitze der oberen Schneidezähne (roter Pfeil). Basierend auf dieser einen Röntgenaufnahme kann konstatiert werden, dass eine Schneidezahn- und Backenzahnmalokklusion vorliegt. Das Gebiss ist also nicht gesund und weitere Untersuchungen sind erforderlich, um die Ursache dieser Veränderungen abzuklären (u.a. auch intraorale Röntgenaufnahmen des Oberkiefers).

Gefahr für den Tränen-Nasen-Kanal und den Zahnhalteapparat der unteren Schneidezähne

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass ohne Röntgenuntersuchung beginnende Veränderungen des Tränen-Nasenkanales lange unerkannt bleiben. Während am Anfang des Krankheitsgeschehens der Kanal meist noch spülbar ist (dies kann ohne Narkose durchgeführt werden), verlegt er sich mit Fortschreiten der Entzündung immer mehr, bis er auch in Narkose nicht mehr frei gespült werden kann. Durch den beständigen Kontakt der Augen mit dem Eiter (im Bereich des inneren Augenwinkels), kommt es häufig zu nachfolgenden Augenproblemen und sogar therapieresistenten Hornhautgeschwüren. Oft breiten sich chronische Entzündungen des Tränen-Nasenkanales im weiteren Verlauf der Erkrankung in die Nasennebenhöhle aus, durch die er direkt hindurch läuft. Chronische sekundäre Nasennebenhöhlenentzündungen können dann oft nur mehr mit sehr invasiven chirurgischen Eingriffen erfolgreich behandelt werden (operatives Ausräumen des Sinus maxillaris). Bedingt durch die spezielle Anatomie der Nase des Kaninchens, kann die Nasennebenhöhle voller Eiter sein, ohne dass das Tier irgendwelche Anzeichen einer entsprechenden Erkrankung zeigt (wie z.B. Niesen oder Nasenausfluss). Wie beruhigend ist da ein Röntgenbild, das zeigt, dass alles in Ordnung zu sein scheint! Und wenn nicht, dann kann frühzeitig mit der weiteren gezielten Diagnostik und dann hoffentlich auch erfolgversprechenden Therapie begonnen werden.

Manche Tierärzte/Tierärztinnen untersuchen die Mundhöhle von Kaninchen indem sie beim unsedierten Tier (kurz) einen Maulsperrer einsetzen, den sie bisweilen liebevoll polstern, um Verletzungen der Weichteile zu vermeiden. Lassen sie dies bei ihrem Kaninchen bitte nicht durchführen! Diese Vorgehensweise ist – nach Ansicht der Autorin – nicht konform mit den Regeln des modernen Tierschutzes und geht mit einer hohen Verletzungsgefahr einher. Es entstehen zugegebenermaßen eher selten Kieferbrüche bzw. Schneidezahnfrakturen und nur vereinzelt regt sich ein Patient so stark auf, dass er droht an einem plötzlichen Herztod zu sterben (sog. „Stress-Exitus“ bei Fluchttieren). Nichtsdestotrotz besteht auch für Kaninchen, die sich völlig ruhig verhalten, ein hohes Risiko deren Gebiss durch den Einsatz eines Kiefersperrers irreversibel zu schädigen. Weshalb? Die Befürworter dieser Untersuchungsmethode verkennen, dass der Einsatz eines Sperrers am nicht narkotisierten Tier schwerwiegende Folgen für die Schneidezähne und somit für das gesamte Gebiss des Tieres haben kann. Die Verwendung eines Kiefersperrers ohne Sedation belastet unausweichlich den unmittelbar hinter den Schneidezähnen liegenden Kieferknochen (Druck der Metallschlaufen). Viele Tiere, denen des öfteren Kiefersperrer eingesetzt wurden, weisen hinter den unteren Schneidezähnen knöcherne Zubildung auf, welche man nur auf Röntgenbildern sehen kann – genau dort, wo der Kiefersperrer die Unterkieferknochenplatte berührt. Es handelt sich hierbei um eine druckbedingte reaktive Knochenzubildung (gelber Pfeil). Diese kann sich – in Verbindung mit einer entsprechenden Mundschleimhautschädigung – auch zu einer lokalen Knochenabszedierung weiterentwickeln.

Zusätzlich wird durch den Einsatz des Kieferspreizers der faserige Halteapparat (das Periodont) der unteren Schneidezähne überdehnt, da die Zähne beim Öffnen des Fanges innerhalb des Zahnfachs nach unten gedrückt und somit der Zahnhalteapparat extrem unphysiologisch belastet wird. Abhängig von den Abwehrbewegungen des Tieres und den hierbei auftretenden seitlichen Scherkräften, können einzelne Periodontalfasern auch reißen. Nach wiederholtem Einsatz eines Kiefersperrers stellt sich das Zahnfach der unteren Schneidezähne auf Röntgenbildern im oberen Bereich häufig deutlich erweitert dar (orangener Pfeil). Dies geht einher mit einer gewissen ventralen „Abkippung“ der unteren Schneidezähne, die nunmehr eine unphysiologische Krümmung aufweisen und folglich mit den oberen Schneidezähnen anormal okkludieren (grüner Kreis). Sie stehen nunmehr mit diesen in unmittelbarem Kontakt. Dies führt zu einer unphysiologischen, stumpferen Okklusionsfläche und einer gewissen sekundären Überlänge der Zahnkronen. Beides zusammen erhöht die axiale Belastung der Schneidezähne und resultiert unausweichlich in einer retrograden Verschiebung ihrer Zahnwurzeln. Im Oberkieferbereich hat dies oft dramatische Folgen, da der in diesem Bereich bereits physiologischerweise sehr enge Tränen-Nasen-Kanal (TNK) hierdurch noch stärker eingeengt oder sogar völlig komprimiert wird. Der vor der Einengung liegende Teil des Kanales weitet sich und dies fördert chronische Entzündungen (siehe oben). Parallel zur Verlängerung der Schneidezahnkronen kommt es auch immer zum sekundären Überwuchs der Backenzähne. Denn beide Bilden eine funktionelle Einheit. Dies belastet wiederum die Zahnwurzeln der Backenzähne und fördert auch deren Einbruch in den Kieferknochen. Da man mit Hilfe von Kieferspreizern sowieso nur ca. 20% der möglichen Veränderungen am Gebisserkennen kann, lohnt es sich keinesfalls das mit deren Verwendung einhergehende sehr hohe Risiko irreversibler Schäden am Gebiss einzugehen. Eine Röntgenuntersuchung des Schädels ist deutlich aussagekräftiger und schonender für den Patienten.

Estella Böhmer