04.04.2017

Kaninchen mit angeblicher Kiefergelenkanomalie – jetzt gesund nach Therapie?

Frage / Vorgeschichte:

Von jetzt auf gleich entwickelte mein Zwergkaninchen ein Stufengebiss. Mit Zahnspitzen, Kauschwierigkeiten, Nahrungsverweigerung und allem was bei Zahnproblemen mit auftreten kann. Er war ca. 18 Monate alt und bis zu diesem Zeitpunkt kerngesund. Er hatte vorher keinerlei Zahnprobleme. Meine TÄ empfahl mir das bei einem Spezialisten klären zu lassen.

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Bei dem Spezialisten wurde auf drei Ebenen unter Narkose geröntgt und eine Anomalie am rechten Kiefergelenk festgestellt. Die Zähne waren an den Wurzeln alle ok. Auch kein Abszess. Nichts, dass die plötzlichen Zahnprobleme verursachen würde außer dieser Anomalie. Kurz gefasst: Ein Problem am Kiefer Gelenk verursachte ……. Schmerzen. Dadurch kaute er nicht richtig und das führte dann zu den Zahnproblemen. Weil das Kiefer Gelenk so winzig ist war eine OP oder ähnliche Behandlung ausgeschlossen. Lediglich die Symptomatik, d.h. die Schmerzen waren behandelbar. Also gab es Metacam für einen Monat, dann Zeel und Traumeel für zwei Wochen und dann nur noch Zeel. Der Tierarzt empfahl mir, es mit Physiotherapie zu versuchen wenn ich jemand finden könnte der Kaninchen behandelt. Und ich wurde fündig. Ich fand eine Tierärztin die auch Osteopathie und Physiotherapie zusätzlich zur Schulmedizin kann. Sie hat diverse Muskelzerrungen und alle möglichen, weiteren Probleme im rechten Kiefer Gelenk und im ganzen Körper festgestellt. Sie meint dass ….. entweder gegen etwas gerannt sein könnte, oder gefallen oder, das denke ich, in eine Prügelei mit einem der anderen Kaninchen verwickelt war. Egal was es verursachte, die Tierärztin hat ……. eingerenkt, beinahe eine Stunde lang. Er hat das richtig genossen.

Nach zwei Wochen war ein Kontrollbesuch angesagt. Muskeln ok Kiefer ok und Zähne gerade. Das machte uns viel Hoffnung, dass ……………. wieder gesund werden würde.

Nach zwei Monaten ist immer noch alles ok. Die Prognose ist mittlerweile hervorragend.

Wenn diese Behandlung nicht gewesen wäre dann wäre ………….. nicht alt geworden weil das Kiefer Gelenk irgendwann nicht mehr funktioniert hätte. Ohne die gründliche Diagnostik seitens des Spezialisten wäre die Kiefergelenk Anomalie nicht entdeckt worden. Ohne die osteopathische Behandlung wäre ……….. als „Zahni“ abgestempelt worden, hätte die Zähne regelmäßig geschliffen bekommen, auch unter Narkose, und hätte mit Schmerzen leben müssen. Und nach ein oder zwei Jahren hätte das Kiefergelenk nicht mehr mitgemacht und er hätte erlöst werden müssen. Keine schöne Perspektive für ein c.a. 18 Monate altes Kaninchen. Jetzt kann er sich auf ein langes, gesundes Leben voller Unfug freuen. Und das Prügeln habe ich der Bande strikt untersagt. Nicht jedes Zahnproblem muss von den Zähnen selbst verursacht werden. Manchmal sind es ganz unerwartete Auslöser die mit ungewöhnlichen Mitteln gelindert oder sogar geheilt werden können.

Antwort:

Leider sieht meines Erachtens die Langzeit-Prognose nicht so gut aus. Veränderungen der Kiefergelenke können bei Kaninchen vorkommen. Sie sind jedoch extrem selten, wohingegen Zahnerkrankungen deutlich häufiger auftreten. Betrachtet man die Kiefergelenke auf der rostro-kaudalen Röntgenaufnahme, so erkennt man in der Tat eine leichte Asymmetrie der Gelenkflächen, jedoch würde ich diese eher als dezent und nicht klinisch relevant einstufen und in erster Linie lieber nach anderen Befunden suchen, die die Problematik des Tieres erklären könnten. Bereits auf dieser Röntgenaufnahme wird man auch fündig: ein Backenzahn im linken Oberkiefer ist retrograd elongiert und zeigt eine beginnende Periodontitis in Form eines erweiterten Zahnfaches.

Dass das Kaninchen definitiv an einer Zahnproblematik leidet, lässt die latero-laterale Röntgenaufnahme erkennen. Die Kaufläche der Backenzähne ist nach kaudal stark abfallend. Der normale Verlauf ist mit der grünen Linie gekennzeichnet (Referenzlinie nach Böhmer & Crossley http://www.medirabbit.com/Radiography/anatomical_lines.pdf). Die roten Balken zeigen, dass die vorderen unteren Backenzähne stark verlängert sind – und zwar um so viel, wie die gestrichelte Linie darstellt. Dementsprechend sind auch die Schneidezähne zu lang (grüner Pfeil und grüne Linie). Das heißt: es liegt definitiv ein Zahnüberwuchs vor. Warum? – wo könnte die Ursache liegen?

Die seitliche Schräg-Aufnahme lässt erkennen, dass der erste untere Backenzahn stark gewellt ist. Leicht gebogen stellt sich dieser auf Schrägaufnahmen häufig dar, aber hier ist er „gewellt“ (gelbe gestrichelte Linie). Und das ist der Bereich, wo die Backenzähne primär zu lang sind. Also wäre der nächste Schritt, mit Hilfe von intraoralen Röntgenaufnahmen diesen Bereich näher unter die Lupe zu nehmen (Unterkiefer isoliert mit horizontal eiongelegtem Dentalfilm oder digitaler Einlesefolie). Diese Aufnahmen helfen bei der Diagnostik beginnender periodontaler Entzündungen, die auch die Schneidezähne betreffen könnten. Gerade diese lassen sich ohne intraorale Aufnahmen nicht isoliert (also ohne störende Überlagerungen) darstellen. Alternativ käme ein CT in Frage. Aber das kostet deutlich mehr und leider ist oft die Auswertung insuffizient, da hierzu Rekonstruktionen in diversen Ebenen erforderlich sind, die entsprechend viel Zeit beanspruchen. Da schaut man daher oft nur einmal „rasch“ über die Studie. Darüberhinaus lassen sich dezente (beginnende) Befunde auf intraoralen Aufnahmen viel besser erkennen (höhere Auflösung der Doppel-Linien pro mm).

Diese Schräg-Aufnahme sowie die folgende latero-laterale Kopf-Aufnahme zeigen darüberhinaus, dass auch die Wand des Mittelohres (Bulla tympanica) leicht verdickt ist (grüner Pfeil). Normalerweise stellt sie sich als hauchdünne Linie dar. Das muss nichts bedeuten, könnte aber auf eine leichte Mittelohrentzündung hinweisen. Zumal in der Nase ein dichterer Bereich erkennbar ist, wo der Tränen-Nasenkanal eine Verdichtung aufweist.

Daher sollte der Tränen-Nasenkanal zumindest aus diagnostischen Gründen gespült werden. Das ist ohneNarkose möglich und gibt Auskunft über seine Durchgängigkeit.  

Zuletzt fällt noch eine Erweiterung einer Zwischenzahnbereiches auf (M1-M2 im Oberkiefer). Zur Klärung dieses Befundes eignet sich ebenfalls die Anfertigung einer intraoralen Röntgenaufnahme.

Zusammenfassend kann man meines Erachtens sagen, dass die Befunde an Zähnen deutlich ausgeprägter sind, als die leichte Asymmetrie der Kiefergelenke, die ich für keinen wesentlichen Befund erachte. Die Zahnveränderungen müssen unbedingt weiter abgeklärt werden, da sie ansonsten unaufhaltsam weiter fortschreiten. Sie lassen sich weder durch Medikamente (Antibiotika) oder andere Therapien aufhalten. Im Anfangsstadium der Veränderungen hat man oft noch die Chance zu helfen. Ab einem gewissen Stadium wird es dann allerdings aussichtslos – wie bei vielen Zahnpatienten, die nicht rechtzeitig zur Behandlung kommen oder deren Befunde leider nicht erkannt werden. Die Zähne sind also nicht – wie oben beschrieben – unverändert. Es liegen sogar sehr deutliche Befunde vor. Befunde, die zu einer Überbelastung einzelner Zähne führen – auch wenn das Tier keine Anzeichen zeigt sich schlecht zu fühlen. Das ist oft so ………………… LEIDER!

Mit freundlichen Grüßen

Estella Böhmer


Beitrag des Kollegen Claus Meyer:

5. April 2017 

Kaninchen mit Zahnproblemen sehen wir Kleintierpraktiker ja fast jeden Tag, daher bin ich recht wenig bewegt von den erhobenen Befunden in diesem Fall. Was mich angreift ist die offenbar geballte Inkompetenz im Tiermedizinischen Lager (Zitat Patientenbesitzerin: „Ich fand eine Tierärztin die auch Osteopathie und Physiotherapie zusätzlich zur Schulmedizin kann.“), die es offenbar möglich macht einem ganz gut voruntersuchten und zum Spezialisten überwiesenen Patienten eine Physiotherapie eines verspannten Kiefergelenkes zukommen zu lassen ohne sich um die eigentliche Ursache zu kümmern. Bei uns muss man nur einen Stein blind werfen um zwei sog. „Tierphysiotherapeuten“ am Kopf zu treffen. Menschen vollkommen ohne spez. Ausbildung. Na gut, so ist das eben. Das solche „Therapien“, die dann im Verlauf eine vernünftige Diagnostik ausschließen, auch im eigenen Lager verbrochen werden, dass ist das, was mich erschaudern lässt.

 

Estella Böhmer antwortet:

5. April 2017 

Lieber Herr Kollege Meyer,

was mich so ärgert ist, dass der „Spezialist“ ja eigentlich tolle Bilder gemacht hat! Er kam nur mit der Diagnostik nicht ganz zurecht. Er stieß einfach an seine Grenzen. Was ist denn dabei, wenn man dem Besitzer dies so – wie es nun einmal ist – erklärt, statt eine Diagnose zu „erfinden“. In meinen Augen wäre es besser gewesen zuzugeben, dass man nuneinmal keine Möglichkeit hat intraorale Röntgenbilder anzufertigen. Dann muss man halt nach einer Alternative suchen. Wichtig ist mir immer, dass der Besitzer die Situation versteht und selbst entscheiden kann. Hier wurde mal wieder für den Besitzer entschieden (zumindest der Schildertung nach): „Bei dem Spezialisten wurde auf drei Ebenen unter Narkose geröntgt und eine Anomalie am rechten Kiefergelenk festgestellt. Die Zähne waren an den Wurzeln alle ok. Auch kein Abszess. Nichts, dass die plötzlichen Zahnprobleme verursachen würde außer dieser Anomalie. Weil das Kiefer Gelenk so winzig ist war eine OP oder ähnliche Behandlung ausgeschlossen. Lediglich die Symptomatik, d.h. die Schmerzen waren behandelbar. Also gab es Metacam für einen Monat, dann Zeel und Traumeel für zwei Wochen und dann nur noch Zeel. Der Tierarzt empfahl mir, es mit Physiotherapie zu versuchen wenn ich jemand finden könnte der Kaninchen behandelt.“

Die Empfehlung des „Spezialisten“ erscheint nicht der Situation entsprechend korrekt gewesen zu sein. Da kann ich dem Besitzer dann eigentlich keinen Vorwurf machen, wenn er einen Physiotherapeuten sucht. Es wurde ihm ja so empfohlen – vom Spezialisten. Ich bin der Ansicht, dass man Zahnerkrankungen bei Kaninchen (meist) nicht ohne zusätzliche intraorale Aufnahmen adäquat behandeln kann (oder ein gut gelagertes aber dann auch entsprechend korrekt ausgewertetes CT). Es fehlt ansonsten einfach die zweite Ebene – vor allem im rostralen UK-Bereich bzw. allen Erkrankungen der Schneidezähne. Und bei Meerschweinchen und Chinchillas sind es die speziellen Lagerungen für die „isolierte Aufnahme des Oberkiefers bzw. Unterkiefers nach Böhmer“. Ich habe diese sehr mühevoll erarbeitet – Studium vieler Köpfe. Sie sind einfach durchzuführen und unverzichtbar, da man Überlagerungen vermeidet. Wer Zähne bei Meerschweinchen ohne diese Lagerungen macht, agiert im Prinzip wie dieser Tierarzt – sie können es mir ruhig glauben. Die Interpretation der Bilder gleich oft einer Hellseherei – wegen der vielen stlörenden Überlagerungen. Entweder man macht fundierte Zahndiagnostik – egal bei welcher Tierarzt – oder man gibt zu es nicht zu können. Da liegt das Problem. Nicht beim Besitzer und nicht bei den nicht ausreichend ausgebildeten Physiotherapeuten. Aber vielleicht war die Situation ja auch ganz anders: der Tierarzt hat alles korrekt gemacht und die korrekten Empfehlungen ausgesprochen, aber die Besitzerin sieht jetzt im nachhinein alles anders? Man war ja nicht dabei….. Dann war es allein die Entscheidung der Tierhalterin?

Mit freundlichen Grüßen

Estella Böhmer