17.03.2022

Kommentar zu einem Artikel - Extraktion erkrankter Unterkieferinzisivi beim Meerschweinchen (Cavia porcellus) via ventraler Mandibulatrepanation. (Tierärztl Prax Ausg K Kleintiere Heimtiere 2021; 49:415-424)

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Extraction of diseased mandibular incisors in the guinea pig (Cavia porcellus) via ventral mandibular trepanation.

Full article at Tierärztliche Praxis K

Mit zunächst großem Interesse habe ich diese Publikation gelesen; in der Hoffnung, dass die Arbeit dazu beitragen wird, dass zukünftig bei Malokklusionen der Heimtiere eine bessere (möglichst frühzeitige) Diagnostik und somit auch eine gezieltere und erfolgversprechendere Therapie durchgeführt wird. Ich wurde aber leider enttäuscht. Denn eine genauere Betrachtung allein der veröffentlichten Röntgenbilder zeigt, dass vieles „übersehen“ oder nicht dementsprechend im Text erwähnt bzw. diskutiert wurde, was jedoch unverzichtbar weitere diagnostische Schritte erfordert und maßgeblich auch das Langzeitergebnis beeinflusst. Da ich davon ausgehe, dass man bei einer Veröffentlichung nach Möglichkeit die besten und informativsten Bilder auswählt, bin ich bei Betrachtung dieser Bilder wirklich irritiert und frage mich, inwieweit die vorliegende Statistik des Therapieerfolges und der praeoperativen Diagnostik den Tatsachen entspricht. Ich habe meine Zweifel. Zur Erklärung möchte ich im Folgenden einige mir wichtig erscheinende Punkte diskutieren.

Abbildung 1 soll ein Meerschweinchen zeigen, das einen „dezent verbreiterten mandibulären Schneidezahn“ aufweist. Ich kann dies anhand dieses Fotos leider nicht erkennen. Beide Inzisivi erscheinen gleich breit (schwarze Linien). Was mir aber auffällt, ist die kleine Einkerbung im Bereich der koronalen Spitze des rechten unteren Schneidezahnes (roter Pfeil). Diese sieht man häufig bei Zähnen, die eine beginnende longitudinale Spaltung aufweisen.

Abbidung 2: Eine abnorme Verbreiterung des Zahnkörpers kann man jedoch auf dem Röntgenbild eindeutig erkennen (gelbe Linie). Insofern wäre eine andere Perspektive bei Anfertigung des Fotos sinnvoll gewesen, damit man die Zahnverdickung auch dort wirklich nachvollziehen kann. Zusätzlich zur „intraalveolären Lyse“ des Zahnkörpers, die die Autoren mit den weißen Pfeilen markiert haben, halte ich die nach koronal ziehende feine schwarze Linie (roter Pfeil) für eine zusätzlich vorliegende beginnende Separation des Zahngewebes (beginnende Spaltung). In der Vergrößerung links oben ist sie etwas deutlicher erkennbar. Wir sehen desweiteren, dass der apikale Bereich des rechten Schneidezahnes (orangener Kreis) im Vergleich zur anderen (linken) Seite etwas transparenter zu sein scheint. Der mediale Mandibularknochen ist in diesem Bereich leicht verdickt (orangener Pfeil). Leider ist der Apex des betroffenen rechten Schneidezahnes vollständig durch die klinischen Kronen der ersten zwei Backenzähne überlagert, die intraoral stark verlängert sind (grüne Pfeile). Der apikale Teil der Schneidezahnalveole ist also leider nicht gut bzw. ausreichend beurteilbar.

Da Entzündungen der Schneidezähne gerne auf die ipsilateralen Backenzähne übergreifen, muss meines Erachtens (basierend auf meiner persönlichen Erfahrung), vor einer geplanten Schneidezahnextraktion immer (!) sicher ausgeschlossen werden, dass die benachbarten Backenzähne noch nicht sekundär mitbetroffen sind. Denn dies beeinflusst die Langzeitprognose ganz entscheidend. Dies ist am besten möglich, wenn man zusätzlich zu standardmäßigen Schrägaufnahmen des Kopfes, die Unterkiefer-isoliert-Aufnahme nach Böhmer ebenfalls schräg anfertigt – zur Darstellung beider Seiten. Dann hat man die Möglichkeit die Backenzähne einmal axial und einmal der Länge nach (orangener gestrichelter Pfeil) zu beurteilen. Dies ermöglicht auch den Apex des betroffenen Schneidezahnes ohne störende Überlagerung herauszupropjezieren. Diese Aufnahmen sollten vor jeder geplanten Schneidezahnextraktion angefertigt werden.

Desweiteren können wir erkennen, dass der Mandibulaknochen lateral der Schneidezahnalveole und im Apexbereich des benachbarten Prämolaren (P4) unauffällig zu sein scheint (gelbe Pfeile). Jedoch erscheint der gesamte apikale Bereich des rechten Prämolaren sehr röntgen-transparent (gelber gestrichelter Pfeil). Ob eine apikale Lyse dieses Backenzahnes bereits praeoperativ vorlag, hätte mit entsprechenden speziellen Schrägaufnahmen geklärt werden sollen. Denn das postoperative Kontroll-Röntgenbild weist meiner Einschätzung nach eine zu vermutende periodontale Infektion des Prämolaren auf.

Abbildung 3 (erscheint eher wie eine spätere Kontrolle als ein postoperatives Bild – bin etwas verwirrt). Dieses Röntgenbild wurde zur Kontrolle des Operationserfolges angefertigt? Somit muss man annehmen, dass dies unmittelbar postoperativ erfolgte, denn es wird berichtet, dass keine Zahnanteile in der Alveole darstellbar sind. Leider wurde dies nicht mit einer entsprechend wirklich informativen schrägen Aufnahme kontrolliert (UK isoliert nach Böhmer – schräg), denn eine Hauptindikation für diese Aufnahme ist die Darstellung des Schneidezahnapex, da dieser ansonsten stets mit anderen Strukturen überlagert wird – wie auch bei der vorliegenden Aufnahme, so dass dessen exakte Beurteilung gar nicht möglich ist (orangener Kreis). Auf der vorliegenden Röntgenaufnahme ist der apikale Bereich des Schneidezahnes nunmehr nicht nur mit den verlängerten Backenzahnkronen überlagert, sondern zusätzlich auch noch mit einem Teil der maxillären Schneidezähne (gelber Pfeil und gelbe gestrichelte Linie). Das sind keine guten Voraussetzungen für eine adäquate radiologische Diagnostik. Man hätte eine bessere Aufnahme auswählen sollen. Zumindest gehe ich davon aus, dass es bessere Röntgenbilder gibt. So wäre es auch sinnvoll die verlängerten Backenzähne unmittelbar nach der Schneidezahnextraktion zu kürzen, da dies die korrekte Darstellung des Schneidezahnapex zusätzlich erleichtern würde. Eine Kürzung ist ja auf jeden Fall erforderlich. Fakt ist aber, dass primäre Schneidezahnpathologien zu fast 100% mit einem entsprechenden intraoralen Überwuchs der Backenzähne einhergehen. In den meisten Fällen werden die Schneidezahnveränderungen jedoch erst in einem Stadium erkannt, wo bereits schlimmere sekundäre Veränderungen der Backenzähne vorliegen. Dies wird in der Arbeit nicht dementsprechend berücksichtigt oder diskutiert. Man hat den Eindruck die Backenzähne sind kein zusätzliches Problem. Dies entspricht nicht meiner persönlichen Erfahrung, zumal wenn Abszess vorliegen mit Kieferentzündungen – wie im gezeigten Fall.

Was man desweiteren auf dieser Aufnahme erkennen kann, ist eine sehr unruhige mandibuläre Knochenstruktur (rote gestrichelte Pfeile) lateral der angeblich leeren Schneidezahnalveole sowie lateral des Prämolaren (P4) (rote gestrichelte Pfeile). Ein Röntgenbild mit einer ähnlichen Lagerung (gesundes Tier) zeigt den Unterschied zum gesunden Kieferknochen sehr deutlich (roter Pfeil). Hier liegt eine massive Osteomyelitis mit reaktiver Knochenzubildung vor. Hinzu kommen zwei apikale lytische Bereiche, die auf eine sekundäre Infektion des naheliegenden Prämolaren hinweisen (grüne Pfeile). Zusätzliche Schrägaufnahmen würden die Veränderungen noch klarer zeigen. Betrachten sie zum Vergleich wiederum das Röntgenbild eines gesunden Patienten (gestrichelter grüner Pfeil). Diese apikale/periodontale Pathologie würde auch den extremen intraoralen Überwuchs des Prämolaren erklären.

Eine weitere Veränderung, die Erwähnung finden sollte, ist die mediale Ausbuchtung des Kieferknochens im Bereich des Schneidezahnapex (weiße gestrichelte Pfeile). Handelt es sich hier ebenfalls um eine lokale Osteomyelitis oder ist es nur eine reaktive reizlose Knochenproliferation? Infolge der Überlagerung mit den intraoral verlängerten Backenzahnkronen sowie den oberen Schneidezähnen ist dies schlecht bis nicht beurteilbar.

Meiner persönlichen Erfahrung nach kann die in diesem Fall geschilderte Therapie nicht in einer komplikationslosen Ausheilung enden. Der Prämolar ist mitbetroffen und wird die lokale Entzündung langfristig nicht zur Ruhe kommen lassen. Ich denke aber, dass dieser Fall von den Autoren als „erfolgreich“ eingestuft wurde, denn anonsten würde man ihn vermutlich nicht für die Publikation auswählen. Das lässt mich an der Statistik zweifeln. Desweiteren erachte ich die praeoperative Diagnostik in diesem gezeigten Fall als nicht ausreichend, ebenso wie die Kontrollaufnahme postoperativ, da sie den fraglichen Bereich nicht überlagerungsfrei darstellt. Man mutmaßt mehr als man tatsächlich sieht bzw. radiologisch erkennt.

Darüberhinaus erachte ich es nicht als sinnvoll infizierte Wunden zu verschließen. Wenn ein Zahn entzündet ist und entfernt werden muss, ist auch die leere Alveole infiziert. Selbst nach sorfältigstem Debridement und ausführlichen Spülungen bleiben Keime zurück. Dieses postoperative Bild zeigt hochgradig entzündetes und geschwollenes Weichteil- und Hautgewebe. Selbst mit Einlage von Fremdmaterial (AIPMMA beads oder Leukase Kegel) sollte zumindest eine kleine Öffnung verbleiben über die Wundsekret austreten kann. Natürlich kann aber diese Wunde komplikationslos verheilt sein. Mir fehlt dann jedoch zum Beweis ein entsprechendes Photo nach 6 Monaten. So präsentiert lehrt uns dieser Fall nur, dass man die Wunden nach einer Zahnextraktion verschließen soll/kann. Ich denke, dass dies aber gerade für die Heimtierpatienten nicht ratsam ist. Das mag aber nur meine persönliche Meinung sein.

Insgesamt finde ich es unverständlich, dass nicht wenigstens ein repräsentativer Fall, der erfolgreich abgeheilt sein soll, mit prae- und postoperativen Röntgenaufnahmen (Langzeitkontrolle) dargestellt wird. Gezeigt wird nur ein unzureichend dokumentierter Fall mit prae- und postoperativen Aufnahmen, der die Frage aufwirft in wieweit man der präsentierten Statistik Glauben schenken darf. Ich habe in dieser Hinsicht große Bedenken, da die Resultate dieser Studie von meinen eigenen langjährigen Erfahrungen abweichen. Es wird über 22 Tiere berichtet, die 6 Monate nach dem Eingriff keine zahnassoziierten Erkrankungen aufwiesen. Darunter befindet sich vermutlich auch der hier diskutierte Fall !!!??? Dabei zeigt er bereits zum Zeitpunkt der Zahnextraktion eine Veränderung auch des anderen/linken Unterkieferschneidezahnes. Dessen Pathologie findet aber leider keine Erwähnung. Wurde sie übersehen? Oder befand man sie als nicht erwähnenswert?

Der Zahn ist strukturell hochgradig verändert (gelber gestrichelter Doppelpfeil – rechts gesundes Gebiss eines anderen Meerschweinchens). Sein Zahnkörper erscheint zudem zumindestens koronal verdickt und weist hier ebenfalls einige intradentale Lysen auf (orangene Pfeile). Hinzu kommt eine Einziehung des Zahnkörpers im intraalveolären Bereich (gelber Pfeil). Dieser Zahn ist definitiv nicht gesund oder unauffällig. Da sich pathologische Befunde an den Zähnen eigentlich nie zurückbilden, muss man davon ausgehen, dass auch zum Zeitpunkt der Kontrolle nach 6 Monaten dieser Zahn dieselben Veränderungen aufwies oder sich der Befund ev. sogar verschlimmert hat. Ohne einen entsprechenden Nachweis einer „Selbstheilung“ muss dieses Tier also zum Zeitpunkt der Kontrolle (6 Monate postoperativ) eine vermutliche Schneide- und Backenzahnproblematik gezeigt haben, solange dies radiologisch nicht ausgeschlossen wurde.

Anhand der hier meines Erachtens nachvollziehbar diskutierten zahlreichen Unzulänglichkeiten in der radiologischen Diagnostik muss ich das statistische Ergebnis der Studie in Frage stellen, das lautet: „Verlaufskontrollen zeigten, dass nach 6 Monaten 85% der operierten Tiere (22/26) keine zahnassoziierten Beschwerden aufwiesen“. Das ist unrealistisch, da es sich hierbei zu einem Großteil um weit fortgeschrittene Erkrankungsstadien handelt.

Ich möchte an dieser Stelle auch erwähnen, dass frühzeitig diagnostizierte Schneidezahnmalokklusionen keine operative Eröffnung der Alveole erfordern. Das ist nicht ratsam, da der Eingriff viel zu invasiv und riskant wäre, gerade weil er viele mögliche Fehlerquellen birgt. Hinzu kommen die doch relativ hohen Operationskosten. Ohne ausreichende Erfahrung ist die operative Eröffnung der Schneidezahnalveole gerade bei fortgeschrittenen Fällen mit den massiven Umbauprozessen am Knochen doch recht anspruchsvoll. Es wäre fatal, wenn man jetzt dazu übergehen würde alle Schneidezähne mit einer Osteotomie der Alveole zu extrahieren. Denn die Schneidezähne können in frühen Stadien standardmäßig intraoral extrahiert werden. Ich verwende hierbei problemlos die Instrumente für Kaninchen. Erst wenn weiter fortgeschrittene Stadien der Schneidezahnmalokklusionen vorliegen, die dann häufig zu Abszessen führen und gleichzeitig auch ausgeprägtere strukturelle Veränderungen der Inzisivi nachgewiesen werden können, ist die Durchführung einer Osteotomie der Alveole indiziert und dementsprechend erforderlich. Parallel hierzu müssen aber gerade in diesen weit fortgeschrittenen Stadien auch die sekundären oder begleitenden Veränderungen der Backenzähne entsprechende Beachtung finden.

Estella Böhmer