11.04.2022

Kommentar zum Beitrag "Heimtiere" im Metacam-Kalender 2021 / Februar


Auf dem Kalenderblatt des Monats Februar 2021 wird ein Meerschweinchen vorgestellt, das einseitig einen pathologisch veränderten ersten mandibulären Backenzahn (P4) aufweist.

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Dieser Zahn wurde extrahiert, ohne eine begleitende intraalveoläre Infektion des ipsilateralen Schneidezahnes sicher auszuschließen, obwohl die veröffentlichten Bilder Hinweise hierauf geben (Prof. Dr. Fehr – Hannover). Ein entsprechendes Vorgehen ist jedoch sehr entscheidend für den postoperativen Heilungsverlauf sowie das langfristige Therapieergebnis; also entscheidend für das Wohl des Patienten. Ohne entsprechende Berücksichtigung weiterer praeoperativer diagnostischer Schritte, ist ein Fehlschlagen der gezeigten Therapie vorprogrammiert und somit die „einfache“ Nachahmung des gezeigten Vorgehens bei vergleichbaren Fällen nicht ratsam. Der Sinn des Kalenderblattes soll vermutlich Wissensvermittlung in einprägender Form sein. Hierzu ist jedoch eine detailliertere Diskussion der sichtbaren Befunde erforderlich (vielleicht nur meiner Ansicht nach?).

Punkt 1: 

Gezeigt wird eine mehr oder weniger symmetrisch gelagerte Unterkiefer isoliert Aufnahme nach Böhmer (siehe Beitrag vom 9-4-2022), die einen längsgespaltenen ersten mandibulären Backenzahn (P4) zeigt (dicker lila Pfeil des Autors). Der Autor bezeichnet dies irrtümlicherweise (?) oder bewusst (?) als „Zahnfraktur“. Eine Fraktur ist in aller Regel die Folge eines Traumas oder eines Ermüdungsbruches bei normaler Belastung. Dies ist bei diesen typischen Längsspaltungen der Backenzähne von Heimtieren jedoch nicht der Fall. Es handelt sich gewissermaßen um eine Separation der jeweiligen Dentinsäulen als Folge der apikalen Entzündung.

Dieser Zahn wird als 308 bezeichnet, was korrekt ist. Die davor befindliche Bezeichnung UK li PM1 (roter Kreis 1) stimmt hingegen nicht, da es sich um den 4. Prämolaren handelt. Meerschweinchen fehlen die ersten drei Prämolaren im bleibenden Gebiss. Das ist einer der Nachteile der Verwendung des Triadansystems: man vergisst gerne die korrekte lateinische Bezeichnung der jeweiligen Zähne, welche in wissenschaftlichen Kreisen (außer den tierzahnmedizinischen) verwendet wird. Dies erscheint mir durchaus sinnvoll, damit jeder nachvollziehen kann, um welchen Zahn genau es sich handelt.

Desweiteren ist mir die Beschreibung „Spaltbildung 208 ggrd länger als Rest (Pfeil)“ nicht verständlich. 208 ist nach dem Triadansystem der erste linke maxilläre Backenzahn (P4). Dieser ist bei der gezeigten Lagerung eigentlich nicht erkennbar (gelber Pfeil) und der erwähnte lila Pfeil weist ja eigentlich auch nicht darauf hin, sondern auf den veränderten mandibulären Backenzahn?

Dann wird noch erwähnt, dass der „OK re Inzisivus (101) abgebrochen ist (lila Kreis)“. Außer Acht lassend, dass der Pfeil neben dem kürzeren maxillären Schneidezahn liegt`und nicht im Bereich der fehlenden klinisch sichtbaren Krone, fällt auf dem Röntgenbild auf, dass die Alveole deutlich erweitert ist (roter Pfeil). Man könnte nun annehmen, dies sei durch die leicht asymmetrische Lagerung bedingt. Jedoch ist die periodontale Erweiterung auch auf der besser gelagerten postoperativen Aufnahme erkennbar (gestrichelter roter Pfeil). Somit muss dies ernst genommen und diagnostisch weiter verfolgt werden! Im übrigen stellt sich ja auch die Frage, ob der Zahn wirklich abgebrochen ist oder ob der Inzisivus infolge einer apikalen Infektion sein Wachstum einfach nur eingestellt hat. 

Punkt 2: 

Keine Erwähnung findet weder im Text noch in den Bildunterschriften die Tatsache, dass der linke mandibuläre Schneidezahn eine unphysiologische Krümmung ausweist (hellgrüne Linie). Man könnte wieder argumentieren, dass dies nur lagerungsbedingt sei? Es ist jedoch auch auf der symmetrisch gelagerten postoperativen Aufnahme erkennbar (hellgrüner Doppelpfeil). Somit ist es ein eindeutiger radiologischer Befund, der sicherlich auch im Rahmen einer sorgfältigen klinischen Diagnostik der Zähne auffällt. Es muss geklärt werden, was die primäre Ursache für die abnorme Krümmung dieses Zahnes ist (?), in dessen Nähe sich auch ein hochgradig pathologisch veränderter Backenzahn befindet. Hängen beide Veränderungen zusammen? Ein Blick auf den Apex des linken mandibulären Schneidezahnes lässt erkennen, dass sich dieser Bereich im Vergleich zur anderen Seite röntgentransparenter darstellt (gelber gestrichelter Kreis). Der apikale Teil des Schneidezahnes scheint zum größten Teil zu fehlen = apikale Lyse = apikale Infektion. Dies muss mit Hilfe weiterer gezielter gezielter Röntgenaufnahmen (Schrägaufnahme UK isoliert nach Böhmer) nachgewiesen oder ausgeschlossen werden (Details zur Lagerung siehe in meinem Zahnbuch). Alles zusammen berücksichtigend denke ich, dass es recht eindeutig eine Schneidezahninfektion ist, da ein erweitertes Periodont hinzu kommt (rote Pfeile) und sich der apikale Bereich auch postoperativ röntgentransparenter darstellt (gelbe gestrichelte Kreise).

Punkt 3: 

Die alleinige Backenzahnextraktion wird nicht ausreichen die lokale Knocheninfektion zur Abheilung zu bringen, die mit einer deutlichen reaktiven Verdickung des Mandibulaknochens einhergeht (hellgrüne Pfeile). Zumal in der Alveole ein verbliebener Zahnrest (vermutlich Teil der kaudalen Schmelzkante erkennbar ist (orangener Pfeil). Beim restlichen intraalveolären Gewebe (orangener gestrichelter Pfeil) könnte es sich um kleine Dentinanteile oder kleine Knochenfragmente handeln. Insgesamt muss man somit konstatieren, dass die alleinige und in dieser Form durchgeführte Extraktion des Prämolaren keinen Sinn ergibt. Aller Erfahrung und Wahrscheinlichkeit nach wird der Infektionsbereich unter dieser „Anbehandlung“ nicht komplikationslos abheilen. Nachversorgungen werden erforderlich sein und das ist weder für den Patienten noch den Besitzer zumutbar.

Punkt 4: 

Auch fragt man sich, wie das Meerschweinchen denn nun die Schneidezähne einsetzen soll/wird? Es hat einen pathologisch veränderten und vermutlich apikal entzündeten und somit schmerzhaften linken mandibulären Schneidezahn. Der Gegenzahn ist hoffentlich gesund. Wird er durch den vermutlich schmerzhaften mandibulären Inzisivus langfristig adäquat abgerieben werden können? Und was passiert mit dem rechten maxillären Schneidezahn? Wird er gesund nachwachsen? Wie kann dies ohne Röntgenkontrolle seines intraalveolären Anteils beurteilt werden, der ein erweitertes Periodont aufweist? Alles in allem muss man kurz- und eher auch langfristig mit Problemen rechnen, wenn man den Dingen nicht durch gezielte Röntgenaufnahmen näher nachgeht. Das ist eigentlich unverzichtbar.

Falls vom Autor dieses Beitrages primär die Wichtigkeit und Effektivität der speziellen Röntgenaufnahme UK isoliert nach Böhmer hervorgehoben werden sollte, so bedanke ich mich dafür und stimme zu, dass diese inzwischen zu den Standardaufnahmen bei Meerschweinchen zählende Positionierung einfach unschlagbar informativ ist. Ich bekomme jedesmal eine Gänsehaut, wenn ich so ein schönes Röntgenbild sehe. Ich freue mich stets aufs Neue die Technik bereits 2010 erstmals beschrieben zu haben. Durch deren Anwendung wird die Diagnostik von Malokklusionen bei Meerschweinchen für den praktisch tätigen Tierarzt deutlich erleichtert, sofern sie auch gut und adäquat interpretiert wird. Hier sehe ich im vorliegenden Beitrag leider deutliche Mängel. 

Teilen Sie mir Ihre Erfahrungen mit der isolierten Aufnahmetechnik mit! Schreiben Sie mich einfach per e-mail an. Ansonsten verwenden Sie sie so oft wie möglich und nötig. Ich bin mir sicher, dass auch Sie begeistert sein werden oder es eventuell bereits sind.

Estella Böhmer